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Sommer 2015

Gute Noten für die Klassik

15. Juni 2015

 

Wer bietet im Sommer die besten Konzerte? Das Schleswig-Holstein Musik Festival und die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich - von Peter Krause

 

Glaubt man den beiden Intendanten der größten sommerlichen Klassikfeste im Norden, dann steht fest: Der große Bruder und die kleine Schwester vertragen sich bestens. Ob das am geringen Altersunterschied liegt? Das Schleswig-Holstein Musik Festival und die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern trennen gerade mal vier Jahre: 1986 und 1990 wurden die Geschwister geboren. Gezeugt hat sie letztlich derselbe Mann: Justus Frantz.

Der Pianist mit enormen Visionen hatte mit Unterstützung einer hochkarätigen Runde starker Persönlichkeiten, die von Leonard Bernstein bis Helmut Schmidt reichte, zunächst befreundete Weltstars in die Scheunen und Herrenhäuser des meerumschlungenen Landes eingeladen. Das funktionierte – seinerzeit war die Idee einer niedrigschwellig-lust-vollen musikalischen Sommerfrische in Deutschland ein echtes Novum – sogleich bestens. Das landwirtschaftlich geprägte, strukturschwache Bundesland profilierte sich durch ein kulturelles Spitzenereignis.

Zu den organisatorischen Mitstreitern von Frantz zählte damals auch der Hamburger Kinderarzt Matthias von Hülsen. Er selbst war es, der später die Aufbruchsstimmung der Wiedervereinigung nutzte, um im östlichen Nachbarland Schleswig-Holsteins das Modell eines ausgedehnten Flächenfestivals einerseits zu imitieren, andererseits mit neuen Akzenten abzuwandeln. Im Gründungskonzert spielten sogar Justus Frantz und der Kurzzeit-DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière einträchtig Klavier und Bratsche.

Der Kontakt zwischen Ost und West war sogleich eng, und der große Festival-Bruder griff der zunächst noch kleinen Festspiel-Schwester tatkräftig unter die Arme. So öffnete Justus Frantz sein mit großen Musikernamen prall gefülltes Adressbuch bereitwillig für die Festivalfreunde im Osten. Nicht zuletzt der große Geiger Yehudi Menuhin, der nach dem Zweiten Weltkrieg für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland eintrat, war auf diesem Wege in beiden Festivals präsent, wirkte auch hier als engagierter Brückenbauer.

Im Sommer 2015 nun haben beide Ereignisse Grund zum Feiern: Das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) findet vom 11. Juli bis 30. August zum 30. Mal statt, die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern (FMV) feiern vom 20. Juni bis 19. September ihr 25-jähriges Bestehen. Die beiden Festivals ergänzen sich vortrefflich. Was auch daran liegt, dass sich die beiden Initiativen in durchaus unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Wo also stehen SHMF und FMV? Welches Event hat welche Stärken? Hat die kleine Schwester den großen Bruder in der inhaltlichen Innovation gar überholt? Wir wagen den Festival-Check zum Vergleich.

 

Und der beginnt ganz trocken mit den Zahlen. Dem Etat des SHMF in Höhe von 8,4 Millionen Euro steht bei den FMV nur ein etwa halb so großes Budget von 4,4 Millionen gegenüber. Beim Output, der Zahl der Konzerte also, schmilzt der Unterschied: 178 Konzerten im westlichen stehen 124 im östlichen Bundesland gegenüber. Im vergangenen Jahr strömten 153.000 Konzertbesucher zum SHMF, 73.000 zu den FMV. Bei der Platzauslastung haben die Festivalmacher im Osten mit 92 Prozent gegenüber 85 Prozent im Westen die Nase vorn.

Die beiden Bundesländer, die fürs Image und die touristische Attraktivität sowie im Sinne der Umwegrentabilität mit hohen Steuerrückflüssen zu den auch ökonomischen Gewinnern der Festivals zählen, beteiligen sich indes nur beschränkt an der Finanzierung: Der Zuschuss aus öffentlichen Geldern macht beim SHMF 14,6 Prozent, bei den FMV sogar nur rund acht Prozent aus. Die Einnahmen aus Kartenverkäufen übersteigen jeweils leicht die durch Sponsoring eingeworbenen Gelder.

Es sind somit an erster Stelle musikbegeisterte Menschen, die den Festivals ihr Leben geben. Richard von Weizsäckers Wort von der "gigantischen Bürgerinitiative", einst geäußert in Bezug auf das breite bürgerschaftliche Engagement für das SHMF, hat somit weiterhin seine Berechtigung. Die an der Durchführung der Konzerte in den jeweiligen Spielstätten und der lokalen Etablierung des Festivals aktiven Beiräte beim SHMF steht bei den FMV ein Förderverein der Festspielfreunde mit über 1400 Mitgliedern gegenüber. Regionale Verwurzelung und Identifikation werden jeweils großgeschrieben.

Spannende Unterschiede freilich bietet die Programmpolitik. Womit wir bei den beiden Hauptverantwortlichen für die musikalischen Inhalte wären. Beide Intendanten kommen von der Kunst. Sowohl Christian Kuhnt als auch Markus Fein sind promovierte Musikwissenschaftler. Kuhnt war schon unter SHMF-Chef Rolf Beck für die Dramaturgie und die damaligen Länderschwerpunkte zuständig, bevor er als Leiter der Pro-Arte-Reihen das Hamburger Musikleben prägte. Feins Handschrift war als künstlerischer Leiter der Sommerlichen Musiktage Hitzacker besonders sichtbar, sein kreativer Einsatz fürs Zeitgenössische und die Entwicklung neuer Erlebnisformen von Musik setzten starke Zeichen, bevor er nach Hannover zu den Niedersächsischen Musiktagen wechselte.

 

In den kleinen Unterschieden der Biografien spiegelt sich die Verschiedenheit der Konzertkonzepte. Wobei sich die grundlegende Herausforderung der Kollegen gleicht: Während die Tournee-Programme der von Salzburg nach Flensburg durchreisenden Stars zwar Glanz verleihen, die Festivals aber austauschbar machen, liegt das Geheimrezept in der rechten Formel für die Eigenproduktionen, mithin jener für das Festival eigens erarbeiteten Programme. Markus Fein stellt sich selbst immer wieder die Frage: "Was können wir leisten im Gegensatz zum Großstadt-Musikerlebnis?" Und er antwortet: "Unsere Musiker können Sie auf der ganzen Welt erleben. Aber wir wollen, dass der Kontakt zu diesen Musikern und das Konzerterlebnis bei uns einmalig ist. Dafür muss man nach Mecklenburg-Vorpommern kommen! Daher setzen wir zu großen Teilen auf eigene Programme."

Konkret heißt das: Igor Levit konzipiert im Rahmen der Reihe "Unerhörte Orte" ein eigenes Programm für den ambivalenten Ort Prora, Nils Mönkemeyer gleich ein dreitägiges Bratschenfest auf Schloss Ulrichshusen mit zahlreichen Premieren. Beim "Pavillon Zukunft" wagt Markus Fein gemeinsam mit Roger Willemsen und Pierre-Laurent Aimard einen Blick ins Konzertleben der Zukunft. Die Künste in ihren Kontexten erfahrbar zu machen, strebt Fein im "Pavillon 1808" an: "Wir blicken mit Veronika Eberle, Andreas Staier und der Akademie für Alte Musik zurück ins Jahr 1808 und schauen, was eigentlich um die großen Beethoven-Kompositionen herum in den anderen Künsten passierte, bei Caspar David Friedrich, Goethe und Kleist. Es ist uns im letzten Jahr tatsächlich gelungen, mit diesen 'Festivals im Festival' jeweils einen ganz eigenen Kosmos entstehen zu lassen."

Christian Kuhnt setzt diesen delikaten Zusammenklängen zunächst das traditionelle Alleinstellungsmerkmal des SHMF entgegen: die breit angelegte pädagogische Arbeit. "Durch das Festivalorchester, den Festivalchor und die Meisterkurse wird das Festival zu einem charismatischen Botschafter des Landes Schleswig-Holstein in der Welt." Wo einst Leonard Bernstein und Sergiu Celibidache die jungen Musiker des international besetzten Festivalorchesters zu Höchstleistungen anspornten, ist es heute ein Christoph Eschenbach, der in der Tat Jahr für Jahr einen immer wieder einzigartigen Klangkörper formt.

Kern von Kuhnts künstlerischem Konzept aber sind die jährlich wechselnde Komponisten-Retrospektive sowie das Solistenporträt. In 2015 stellt er das Schaffen von Peter Tschaikowsky in den Mittelpunkt und lädt Martin Grubinger als Residenzkünstler ein. Alle 16 Konzerte mit dem österreichischen Schlagzeugvirtuosen sind speziell für das SHMF entwickelt worden. "Auch unsere Komponisten-Retrospektive haben wir in engem Austausch mit unseren Künstlern mit Leben gefüllt. Und so beschäftigen sich etwa Mischa Maisky, Martha Argerich oder das London Philharmonic Orchestra mit unserem diesjährigen Schwerpunktthema Peter Tschaikowsky."

 

Gehörten die Stars der Szene beim SHMF jedoch schon immer zum Kerngeschäft, setzen die weniger finanzstarken FMV gleichsam auf Nachhaltigkeit: Festival-Gründer Matthias von Hülsen erläutert sein Vorgehen: "Wenn die Big Names nicht zu uns kommen, dann müssen wir sie uns selbst basteln, denn wenn die großartigen jungen Künstler ihre Karriere hier bei uns beginnen, werden sie immer wiederkommen." Er sollte Recht behalten. 1995 wurde die internationale Nachwuchsreihe "Junge Elite" gegründet, in der vielversprechende Talente ausgezeichnet und dann immer wieder eingeladen wurden. Zu den ersten Preisträgern gehörten Daniel Müller-Schott, Julia Fischer und Daniel Hope, die zu den Festspielen nur zu gern zurückkehren – heute nun ihrerseits als Weltstars.

Markus Fein knüpft an das Erfolgsrezept an: "Ich versuche sogar, dieses Alleinstellungsmerkmal auszubauen, zum Beispiel durch Künstlergespräche, musikalische Spaziergänge, Diskussionen, bei denen die Besucher noch näher dran sind an der Musik und den Musikern. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern profilieren wir als ein Festival der Entdeckungen."

Und wie blicken die Intendanten hinüber zum Mitbewerber? In reiner Geschwisterliebe? Markus Fein: "Ich sehe uns in der gemeinsamen Verantwortung dafür, die klassische Musik in die Zukunft zu tragen. Darüber hinaus kooperieren wir übrigens auch: Unser Preisträger Nils Mönkemeyer gastiert in Schleswig-Holstein, und das SHMF besucht uns mit Ulrich Tukur." Christian Kuhnt entgegnet: "Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern wurden vom SHMF gegründet. Beide Festivals haben also dasselbe Fundament und entwickelten im Laufe der Jahre ganz unterschiedliche Profile. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie die Idee des SHMF die Konzertlandschaft in Deutschland verändert hat."

 

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